"Aus Internetplattformen werden schnell Monopolisten"
General-Anzeiger: Vom Eisdielenkartell in Tübingen bis zu Lkw-Herstellern Es fliegen zahlreiche Preisabsprachen auf. Gibt es mehr als früher?
Andreas Mundt (Mundt): Wir kennen die Dunkelziffer nicht, deshalb kann ich diese Frage nicht wirklich beantworten. Ich kann Ihnen aber versichern, dass wir in diesem Bereich immer eine Menge zu tun haben, auch wenn die Summe der Bußgelder von Jahr zu Jahr schwankt. 2014 haben wir Bußgelder von über eine Milliarde Euro verhängt, 2016 waren es 125 Millionen Euro. Verfahren dauern meist mehrere Jahre; das erklärt die großen Unterschiede. Wir gehen aktuell einer ganzen Reihe von neuen Verdachtsmomenten nach.
General-Anzeiger: Gibt es Märkte, die besonders zu Preisabsprachen neigen?
Mundt: Früher ist man davon ausgegangen, dass es bei gleichartigen Massengütern wie zum Beispiel Transportbeton öfter zu Preisabsprachen kommt. Aber allein in den vergangenen Jahren hatten wir es mit Absprachen auf so unterschiedlichen Märkten wie Süßwaren, Bahnschienen, Dekorpapier, Bier, Wurst, Brillen oder Betonpflastersteinen zu tun. Da lässt sich kein Muster ausmachen.
General-Anzeiger: Sorgt die Kronzeugen-Regelung für mehr Aufdeckung?
Mundt: Die Kronzeugen-Regelung hat sich zu einem sehr wichtigen Instrument der Kartellverfolgung entwickelt. Es gibt nur diesen einen Weg, um aus einem Kartell auszusteigen, denn nur der erste, der das Kartell auffliegen lässt, bleibt straffrei. Unsere meisten großen Fälle gehen auf die Kronzeugen-Regelung zurück. Wir bekommen aber auch von unbeteiligten Dritten wertvolle Informationen über Kartelle.
General-Anzeiger: Haben Kartellteilnehmer ein Unrechtsbewusstsein oder handeln sie öfter aus Naivität?
Mundt: Das Unrechtsbewusstsein ist vorhanden. Sie finden oft Schriftstücke, auf denen steht: „Sofort vernichten“ oder „Nichts für das Kartellamt“. Kartelle sind keine Kavaliersdelikte. Es wird sogar versucht, Firmen in die Insolvenz zu drängen, die nicht mitmachen wollen.
General-Anzeiger: In anderen Branchen geht es nicht um Kartelle, sondern um starke Marktmacht. Kommt der Konzentrationsprozess im Lebensmittelhandel jetzt zum Stillstand?
Mundt: Wir haben ein sehr wachsames Auge auf den Lebensmittelmarkt. 85 Prozent Marktanteil für vier Firmen – das ist schon viel. Aber das heißt nicht, dass es nicht auch in Zukunft zu kleineren Übernahmen kommen kann. In Norddeutschland hatten wir jetzt die Übernahme von Coop durch Rewe. Auch dabei mussten die Firmen Auflagen erfüllen. Es bleibt natürlich bei der hohen Konzentration, die weder für Lieferanten noch für Kunden gut ist.
General-Anzeiger: Reichen die Instrumente des Bundeskartellamtes aus, um den Markt unter Kontrolle zu halte?
Mundt: Die Fusionskontrolle ist schon ein scharfes Schwert. Die Ministererlaubnis, wie sie im Fall Edeka und Kaiser´s/Tengelmann ausgesprochen wurde, ist ein politisches Instrument und wird ja auch nur sehr selten genutzt. Und gerade im Handel hat der Gesetzgeber die bestehenden Vorschriften zur Missbrauchskontrolle noch einmal nachgeschärft.
General-Anzeiger: Auf dem Lebensmittelmarkt im Internet tritt mit Amazon fresh jetzt ein neuer Konkurrent in Deutschland auf. Aus welchem Blickwinkel betrachten Sie diese Entwicklung?
Mundt: Aus wettbewerblichen Gesichtspunkten ist das natürlich ein belebendes Element. Die anderen großen Lebensmittelkonzerne versuchen ja auch, in diesen Markt hereinzukommen. Ob das überhaupt für alle Lebensmittel funktionieren wird, wissen wir nicht. Wir betrachten die Entwicklung erst einmal ganz neutral.
General-Anzeiger: Um zu den Internet-Riesen zu kommen. Die Marktmacht von Apple, Amazon, Facebook, Google und Co. ist groß. Wie gehen Sie damit um?
Mundt: Internetplattformen verändern das Wettbewerbsgeschehen nachhaltig. Netzwerkeffekte befeuern deren Wachstum hin zu großen und marktmächtigen Unternehmen. Niemand will auf einer Plattform sein, die kaum jemand anderes nutzt. Nutzer ziehen Nutzer an wie auf den sozialen Netzwerken, und viele Nutzer ziehen wieder viele Anbieter an und umgekehrt, wie bei Verkaufs- oder Buchungsplattformen. Das verändert unsere Arbeit massiv. Wir haben aber früh darauf reagiert, einen internen „Think Tank“ gegründet und sehr viele Verfahren bei Internetplattformen erfolgreich abgeschlossen. Aktuell ermitteln wir u.a. gegen Facebook, die Europäische Kommission gegen Google.
General-Anzeiger: Einige Politiker sprechen sich für eine stärkere Regulierung der Internetfirmen aus.
Mundt: Die Verfahren der Wettbewerbsbehörden dauern vielleicht verhältnismäßig lange, aber Regulierungsverfahren wären wahrscheinlich noch länger und vor allem statischer. Denn wenn sich Geschäftsmodelle ändern, müsste man erst wieder gesetzliche Grundlagen anpassen. Geschwindigkeit ist für uns ein zentrales Thema: Wir müssen in der digitalen Wirtschaft schneller werden. Zum Beispiel wollen wir einfacher einstweilige Anordnungen erlassen können. Da fehlt noch uns ein gesetzlicher Baustein.
General-Anzeiger: Die Reform des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gibt dem Bundeskartellamt mehr Kontrolle über Märkte, in denen nicht mit Euro und Cent, sondern mit Daten bezahlt wird. Wie wirkt sich das aus?
Mundt: Es erleichtert unsere Arbeit. Die Novelle hat viele Fragen geklärt, so dass wir uns deshalb nicht mehr vor Gericht rumschlagen müssen. Beispielsweise stehen Netzwerkeffekte jetzt als Marktbeherrschungskriterium im Gesetz.
General-Anzeiger: Bekommt man in diesen Bereich überhaupt noch wieder Wettbewerb hinein?
Mundt: Plattformen leben von Netzwerkeffekten und ihrer Größe. Es ist weniger ein Kampf um Marktanteile, eher müssen die Großen fürchten, von innovativen Newcomern abgelöst zu werden. Daran werden wir uns gewöhnen müssen. Wir ziehen heute die Leitplanken für die Internetwelt ein, die natürlich noch durch die Gerichte bestätigt werden müssen. Auch wir müssen uns ständig neu erfinden, um den Entwicklungen gerecht zu werden.
General-Anzeiger: Auf vielen Reiseportalen sind die Preisangaben nicht transparent oder Sonderangebote sind gar nicht mehr erhältlich, hat die EU-Kommission festgestellt. Muss das Bundeskartellamt aktiv werden?
Mundt: Bei den Preisangaben können wir mit dem Kartellrecht bislang wenig ausrichten, weil es sich bei den Portalen nicht um marktbeherrschende Unternehmen handelt. Aber in der Tat sind undurchsichtige Gebührengestaltungen problematisch.
General-Anzeiger: Wie gut sind Verbraucher im Internet vor unlauteren Machenschaften geschützt?
Mundt: Unternehmen können im Internet durch eine einzige Handlung Millionen Verbrauchern schaden. Der Verbraucherschutz ist in Deutschland vor allem privatrechtlich organisiert, und die Verbraucherverbände leisten gute Arbeit. Das System stößt aber in der digitalen Wirtschaft an Grenzen. Deswegen wäre es gut, wenn wir hier mehr Handlungsspielraum bekämen. Mit der Novelle des Kartellrechts sind wir schon ein bisschen zur Verbraucherschutzbehörde geworden Wir können in diesem Bereich bald Sektoruntersuchungen durchführen und sind dabei, eine neue Abteilung für Verbraucherschutz einzurichten.
General-Anzeiger: Was können Sektoruntersuchungen bewirken?
Mundt: Wir können damit den Handlungsbedarf auf einem Markt identifizieren. Vergleichsportale, Preisangaben, Allgemeine Geschäftsbedingungen oder Datenschutz im Internet sind Beispiele, die man unter die Lupe nehmen könnte.
General-Anzeiger: Haben Sie die nötigen Befugnisse, um gegen Probleme auch vorgehen zu können?
Mundt: Das wäre der nächste Schritt. Vorschläge sind in der politischen Diskussion. Ich bin aber ohnehin ein Freund von evolutionären Prozessen. Nach der Bundestagswahl wird die Debatte über behördlichen Verbraucherschutz weitergehen. Es gibt weltweit viele Behörden, die Wettbewerbsrecht und Verbraucherschutz gleichzeitig machen.
General-Anzeiger: Fühlen Sie sich von der Politik gut unterstützt?
Mundt: Auf jeden Fall.
General-Anzeiger: Neue Stellen hat es aber nicht geben.
Mundt: Mitten im Jahr wäre das auch schwierig gewesen. Wir werden sie für den Haushalt 2018 anmelden.
General-Anzeiger: Wie ist Ihre Haltung zur Schaffung einer Digitalagentur oder eines Digitalministeriums?
Mundt: Bei der Digitalagentur bin ich skeptisch. Es gibt genug Behörden, die sich bei den konkreten Themen gut auskennen und bei denen es klare Synergien mit ihrer jeweiligen Aufsichtstätigkeit gibt. Beim Digitalministerium will ich mich nicht in die Politik einmischen, aber wem es gelingt, bei der Digitalisierung echte Impulse zu setzen, der kann sich große Verdienste erwerben.
General-Anzeiger: Warum?
Mundt: Es gilt, die ganz zentralen Fragen für die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes zu beantworten. Die erste Runde der Digitalisierung haben wir in Europa verloren. In der IT-Wirtschaft ist nur SAP unter den weltweit großen Unternehmen. Jetzt kommt die zweite Runde: Das Rennen um Industrie 4.0 dürfen wir nicht verlieren. Sonst beschädigen wir dauerhaft unsere industrielle Basis. Das ist ein Megathema.
Das Interview führten Claudia Mahnke und Helge Matthiesen.
Quelle: General-Anzeiger vom 06.05.2017