"Den Amazon-Marktplatz haben wir genau im Blick“

Kartellamtspräsident Andreas Mundt über den schwierigen Kampf gegen Preisabsprachen, die Macht der Digitalkonzerne und seine Wünsche an die neue Regierung.

FAZ: Herr Mundt, seit der Corona-Pandemie ist von Kartellen und Preisabsprachen kaum noch etwas zu hören. Woran liegt es?

A. Mundt: Sicherlich nicht daran, dass es keine Kartelle mehr gibt. In der Tat hat es die Pandemie aber schwieriger gemacht, ihnen auf die Schliche zu kommen und Beweise sicherzustellen. Wir haben unsere Durchsuchungen sehr zurückgefahren. Aber die entspannten Zeiten für Kartellsünder sind vorbei. Wir sind wieder unterwegs und haben uns schon den einen oder anderen Verdachtsfall angeschaut. Sorgen bereitet mir allerdings, dass sich immer weniger Unternehmen melden, um als Kronzeugen aufzutreten.

FAZ: Was ist der Grund?

A. Mundt: Das ist die Schattenseite der Regelung, die es geschädigten Kunden seit einigen Jahren einfacher macht, Schadenersatz wegen eines Kartellverstoßes einzuklagen. Betroffen davon können auch solche Unternehmen sein, die ein Verfahren als Kronzeuge erst ins Rollen gebracht haben. Wir können dann auf ein Bußgeld verzichten, aber es drohen trotzdem hohe Schadenersatzforderungen. Da wird dann oft lieber geschwiegen als ein Kartell verraten.

FAZ: Welche Folgen hat das?

A. Mundt: Ungefähr die Hälfte unserer Kartellverfahren geht darauf zurück, dass Kronzeugen anklopfen. Mit dieser Regelung ist die Kartellverfolgung in Deutschland erst richtig in Schwung gekommen. Auch die Beweisanforderungen vor Gericht sind ohne einen Kronzeugen nicht einfach zu erfüllen. Auf dem Höhepunkt hatten wir 2015 noch 76 Bonusanträge, im vorigen Jahre waren es nur dreizehn. Das ist eine bedenkliche Entwicklung, vor der wir immer gewarnt haben.

FAZ: Aber entfalten die Schadenersatzklagen nicht auch eine abschreckende Wirkung?

A. Mundt: Auf den ersten Blick, ja. Die Dimensionen sind ja auch gewaltig. Gegen das Lastwagenkartell summieren sich die Forderungen auf mehr als eineinhalb Milliarden Euro, gegen das Zuckerkartell sollen es rund 850 Millionen Euro sein. Aber wenn ein Kartell erst gar nicht aufgedeckt wird, weil die Folgerisiken für die Kronzeugen zu hoch sind, geht die Abschreckung ins Leere, und das Kartell läuft einfach weiter.

FAZ: Wie reagiert das Kartellamt darauf?

A. Mundt: Indem wir unsere anderen Instrumente schärfen, etwa unser anonymes Hinweisgebersystem. Es ermöglicht einen unerkannten elektronischen Austausch mit einem festen Ansprechpartner im Kartellamt, und damit sind wir auch schon fündig geworden. Aktuell nutzen wir darüber hinaus Screening-Systeme. Ziel ist es, bei Ausschreibungen oder anderswo auf dem Markt Muster zu erkennen, die auf illegale Absprachen hindeuten. Das steht und fällt mit der Datenbasis und erfordert ausgefeilte
Technik. Für eine effektive Kartellverfolgung ist jedoch ein wirksames Kronzeugenprogramm weiterhin essentiell. Daher hoffe ich, dass die neue Bundesregierung darüber nachdenkt, wie wir die Schlagkraft der Kronzeugenregelung - insbesondere auch auf europäischer Ebene - wieder erhöhen können.

FAZ: Sie führen mehrere Auseinandersetzungen mit Amazon. Jetzt hat das Landgericht Hannover den Konzern auf Klage eines Händlers kürzlich klipp und klar als marktbeherrschend eingestuft. Warum scheut das Bundeskartellamt davor zurück?

A. Mundt: Wir scheuen nicht zurück, sondern haben gerade gegen Amazon sehr viel erreicht. Dass jener Händler überhaupt vor das Landgericht gehen konnte und Amazon nach deutschem Recht verklagen konnte, liegt daran, dass das Bundeskartellamt 2019 eine Änderung der Geschäftsbedingungen durchgesetzt hat. Bis dahin ging das nur in Luxemburg, nach luxemburgischem Recht. Jetzt kommt Rückenwind von den deutschen Zivilgerichten. Das ist ein großer Erfolg, weil Deutschland für Amazon nach den USA der mit Abstand wichtigste Markt ist. Die Feststellung einer flächendeckenden Marktbeherrschung ist für ein Kartellamt, das dafür erheblichen Begründungsaufwand betreiben muss, eben nicht immer der schnellste Weg.

FAZ: Wie weit sind die laufenden Verfahren gegen Amazon?

A. Mundt: Wir gehen weiterhin dem Verdacht nach, dass Amazon in unzulässiger Weise Einfluss auf die Preisgestaltung von Dritthändlern auf der Plattform nimmt. In dem zweiten Verfahren geht es darum, ob die Zusammenarbeit mit Markenherstellern wie Apple zulasten von Dritthändlern geht. Beides sind sehr zentrale Fragen, weil auf dem deutschen Amazon Marketplace rund dreihunderttausend Händler vertreten sind, davon etwa zwei Drittel aus Deutschland. Wie es dort zugeht, werden wir
genau im Blick behalten. Und dann ist Amazon ja auch einer der Digitalkonzerne, gegen die wir nach den neuen Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgehen.

FAZ: Neben Amazon sind Google, Apple und Facebook auf der Liste. Kommen da noch mehr?

A. Mundt: Es geht in diesen Verfahren zunächst um den Nachweis, dass ein Konzern eine überragende marktübergreifende Bedeutung hat. Ein Anhaltspunkt dafür kann ein sich über verschiedene Märkte erstreckendes digitales Ökosystem sein. Das gibt es in ausgeprägter Form sicher nicht bei vielen Unternehmen, vielleicht noch bei einigen chinesischen Internet-unternehmen, aber die sind in Deutschland bisher nicht in nennenswertem Umfang aktiv. Bislang sind es tatsächlich nur amerikanische
Unternehmen, gegen die wir solche Verfahren eröffnet haben.

FAZ: Wie lange wird es dauern, bis erste Ergebnisse vorliegen?

A. Mundt: Wir tun unser Bestes. Wir haben ein neues Instrument, um mehr Wettbewerb gegenüber den großen Digitalkonzernen durchzusetzen, und jetzt wollen wir zeigen, dass es funktioniert.

FAZ: Haben Sie in Sachen Digitalwirtschaft weitere Wünsche an die neue Bundesregierung?

A. Mundt: Vieles, was uns heute Mühe macht, ist das Ergebnis einer Fusion. Nehmen Sie Beispiele wie Google und Double Click oder den Kauf von lnstagram und Whatsapp durch Facebook. Da geht es anfangs immer um kleine Unternehmen mit wenig Umsatz, aber am Ende wird das jeweilige Ökosystem noch stärker und größer. Fusionsrechtlich bekommt man das schon deshalb schwer in den Griff, weil die Umsätze der gekauften Unternehmen in einer frühen Marktphase so gering sind. In Deutschland haben wir deshalb das Gesetz um die Möglichkeit erweitert, auch den Kaufpreis heranzuziehen, um sogenannte „ Killer-Akquisitionen" ausfindig zu machen. Das ist grundsätzlich ein guter Weg, in der Praxis aber eine schwierige
Angelegenheit.

FAZ: Warum?

A. Mundt: Mancher großer Konzern kauft jedes Jahr eine ganze Reihe von kleinen Unternehmen und weiß selbst nicht, welche ihn nach vorne bringen könnten oder welche er als potentielle Wettbewerber einfach stilllegen wird. Da wird einfach ausprobiert. Aber wir als Wettbewerbsbehörde sollen in dieser frühen Phase rausfiltern, welche Akquisition in Zukunft wettbewerblich schädliche Wirkungen haben könnte. Das ist schon deshalb heikel, weil darunter auch die deutsche Start-up-Szene leiden kann. Viele Unternehmen werden ja mit dem Ziel gegründet, sich später von einem der großen Anbieter kaufen zu lassen. Es gibt auch ganz praktische Schwierigkeiten.

FAZ: Zum Beispiel?

A. Mundt: Es ist gar nicht so einfach festzustellen, wie viel ein Konzern tatsächlich für ein Unternehmen bezahlen will, wenn zum Beispiel mit Optionen oder anderen zukunftsgerichteten Bezahlungen operiert wird. Vielleicht gibt es bessere Modelle. So könnte man darüber nachdenken, ob es möglich ist, von uns identifizierten mächtigen Digitalunternehmen die Beweislast aufzuerlegen, dass eine Übernahme dem Wettbewerb nicht schaden wird oder die Hürden für eine Untersagung in diesen speziellen Fällen zu senken.

FAZ: Geben Sie Ihrem Wunsch nach zusätzlichen Befugnissen im Verbraucherschutz noch eine Chance?

A. Mundt: Dieses Anliegen sollte ein Thema für die neue Bundesregierung bleiben. Wir brauchen einen verbesserten Verbraucherschutz im Internet, also da, wo Verstöße regelmäßig eine Vielzahl von Menschen treffen und der private Rechtsschutz über die Zivilgerichte an seine Grenzen stößt. In diesem Vakuum ist die Situation wirklich unbefriedigend. Unsere Sektoruntersuchungen, etwa zu Vergleichsportalen, Mobile Apps oder Nutzerbewertungen, zeigen, dass vieles im Argen liegt. Aber wir können
diese Missstände bisher nur aufdecken, haben aber keine Möglichkeiten, dagegen vorzugehen und die Lücke zu schließen.

FAZ: Aktuell schauen Sie sich auch den Markt für Ladesäulen an. Zahlen die Fahrer von Elektroautos zu hohe Preise?

A. Mundt: Wir kennen die Vorwürfe. Natürlich dürfen die Preise nicht in den Himmel schießen. Aber hohe Preise sind nicht per se missbräuchlich überhöhte Preise. Aus unserer Sicht geht es im Moment vor allem darum, möglichst schnell genug Ladesäulen aufzustellen, und zwar in einem wettbewerblichen Umfeld. Dafür brauchen wir Investitionen und deshalb Investitionsanreize. Mit einem wettbewerbsorientierten Ausbau und einer zunehmenden Auslastung des Ladenetzes werden die Preise
von selbst heruntergehen.

FAZ: Brauchen wir einen Durchleitungswettbewerb, sodass die Kunden an einer Ladesäule die Wahl zwischen Strom von mehreren Anbietern bekommen?

A. Mundt: Das hat in der jetzigen Phase keine Priorität. Entscheidend ist es, den Ausbau im Wettbewerb zu beschleunigen. Da geht es zum Beispiel um den Zugang zu öffentlichen Flächen und eine öffentliche Förderung, die Anbietervielfalt unterstützt und regionale Monopole verhindert. Wenn wir das richtig machen, wäre das schon mal ein sehr wichtiger Impuls.

FAZ: Vor der Wahl versprechen die Parteien neue Förderprogramme für den Klimaschutz, Unternehmen streben streben eine engere Zusammenarbeit an, zu bewältigen. Muss der Wettbewerb zuriickstecken, um den Wandel zu erleichtern?

A. Mundt: Wettbewerb muss Teil der Lösung sein. Natürlich werden schwierige Fragen auf uns zukommen. Zunächst ist bei Nachhaltigkeitsvorgaben der Gesetzgeber gefragt. Da bedarf es dann auch keiner Absprachen zwischen Unternehmen. In einem kleineren Maßstab erleben wir das allerdings beim Tierwohl-Siegel und beim Grünen Knopf für nachhaltig produzierte Textilien und ähnlichen Initiativen. a akzeptieren wir es, dass sich Unternehmen bei einzelnen Nachhaltigkeitsthemen zusammentun und gewisse Absprachen treffen. Aber die dicken Bretter kommen wahrscheinlich noch. Inwieweit dürfen Stahlunternehmen kooperieren, um grünen Stahl an den Markt zu bringen? Oder welche wettbewerblichen Spielräume gibt es für Unternehmen beim Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft?

FAZ: Haben Sie schon Antworten?

A. Mundt: Wir befassen uns sehr intensiv mit der Frage, wie wir unser Instrumentarium anwenden, um die richtige Balance zu finden. Eins ist auch klar: Allein mit Förderprogrammen ist die Transfonnation nicht zu bewältigen. Solche Summen kann der Staat gar nicht aufbringen. Es braucht private Investitionen und Wettbewerb um die besten Technologien, kein Mikromanagement. Und dazu muss auch der CO,-Preis als wettbewerblich steuerndes Element die richtigen Signale liefern.

Das Interview führte Helmut Bünder.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung | 17. September 2021, Seite 26

PDF-Datei des Interviews in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: